Ein historischer Rundgang durch Wehlheiden

Mit freundlicher Genehmigung der VSA: Verlag Hamburg GmbH dürfen wir folgend aus dem Buch
Kassel zu Fuß – 17 Stadtteilrundgänge durch Geschichte und Gegenwart (ISBN 3879754519)
Das Kapitel "Ein historischer Rundgang durch Wehlheiden" von Norbert Sprafke wiedergeben.



Den Wehlheidern hängt seit eh und je der Ruf besonderer Eigenwilligkeit und ausgeprägten Selbstbewusstseins an, dem Stadtteil der Ruf, "ein gewisses Chaos" (Prof. Kopetzky) auszustrahlen. Selbst die örtlichen Konservativen müssen sich anstrengen, diesen Eigenarten gerecht zu werden, um sich von dem Geruch zu befreien, keine echten Wehlheider zu sein. Diese, schmähten die neidischen Nachbarn, seien "meistens arme Dienstleute und Fröner" und verfügten nur über "eingeschränkte Verstandeskräfte". Was die "Wehlheider Jungen vielbesungen" nicht weiter stört, sind sie doch "Wagenrungen", wie die Ortshymne mitteilt. Mir Wort und Tat, die Legende besagt mit Wagenrungen (Bestandteil eines Leiterwagens), widersetzen sich die Wehlheider seit Jahrhunderten allen Übergriffen auf ihr Territorium, untermauern sie ihren Anspruch auf die Unverletzlichkeit ihres Ortes und träumen von der Wiedervereinigung mit den verlorenen Gemarkungsteilen Vorderer Westen und Auefeld.

Wir beginnen unseren Spaziergang an der nach Westen und zur Wilhelmshöhe führenden Kasseler Prachtstraße, um dem durch die Jahrhunderte recht lebendig gebliebenen Treiben zu folgen. Dieses spürten erstmals die Kasseler Einwanderer, die sich in früheren Zeiten an der damals attraktiven Allee niederließen und die Zahlung der Gemeindeabgaben verweigerten. In einer 26-jährigen gerichtlichen Auseinandersetzung obsiegten die Dörfler über die zugewanderten Städter.

Harmloser war dann schon die Begegnung mit Wehlheiden für die Kasseler, die auf dem Weg zum Herkules in den 37 Kneipen des Bierdorfes hängenblieben und ihr ursprüngliches Ausflugsziel aus dem Auge verloren.

Entlang der die Gemarkung zerschneidende Allee wuchs die aufstrebende Großstadt Kassel nach Wehlheiden hinein, der Kasseler Fabrikant Aschrott begann, dort ein neues Kassel zu bauen. In der Legende überschreiten die Alt-Wehlheider diese Grenze zum Stadtteil Vorderer Westen nur des nachts mit Dreschflegeln und Mistgabeln, um den verlorenen Vorderen Westen heimzuholen. Heute fällt es den Wehlheidern tatsächlich schwer, diese vierspurige Kasseler Hauptverkehrsstraße zu überqueren, die ihre alten Bier- und Vorgärten und damit ihren Charakter längst verloren hat, und als natürliche Stadtteilgrenze des automobilen Zeitalters den Stadtteil nach Norden abschnürt.

Der Wehlheider Platz ersetzte in früheren Jahren ein mit der Zeit unwirtlich und trostlos gewordenes, unübersichtliches Straßengeflecht aus Allee, Kirchweg, Friedensstraße, Germaniastraße und Pestalozzistraße. Jetzt stößt hier die Wittrockstraße auf die Allee. Benannt ist die Straße nach der "roten Kasseler Wittrockdynastie", einer Familie, deren zahlreiche Mitglieder eine entscheidende Rolle in der Kasseler Arbeiterbewegung spielten. In der Unteren Schäfergasse der Kasseler Altstadt betrieb die Familie eine Gastwirtschaft, die um die Jahrhundertwende und in den 20er Jahren Versammlungsort der SPD und Streiklokal war. Während des Faschismus wurde die Familie verfolgt und bedroht, die Nazis versuchten den Wittrocks die Konzession wegzunehmen. In der Bombennacht 1943 wurde das Wirts- und Wohnhaus zerstört. Nach dem II. Weltkrieg engagierten sich vor allem "Willy der Leisetreter, Christian der Zwischenrufer im Landtag und Backstein-Karl der Wiederaufbauministerialdirektor", wie der Spiegel 1948 die Wittrockbrüder nannte, als SPD-Mitglieder in der Kasseler Stadt- und der hessischen Landespolitik.

Die Wittrockstraße zertrennt den Platz in zwei ungleiche Teile. Der kleinere Teil, früher die Endstation der Herkulesbahn, die 1965/66 ihren Betrieb einstellte, entwickelte sich zur Fußgängerbrücke zwischen den Autofahrbahnen, zu einem Knotenpunkt des öffentlichen Nahverkehrs. Der größere Teil des Platzes öffnet den Zugang zum verkehrsberuhigten Viertel um Kirchweg, Friedensstraße und alten Ortskern.

Brunnen auf dem Wehlheider Platz (© www.weber-fotografie-kassel.de)

Freitags kommt am Standort des einzigen Kasseler Wochenmarktes unter freiem Himmel tatsächlich Dorfatmospähre auf. Wenn im Herbst 1988 der vom Kölner Prof. Brummack geschaffene Brunnen eingeweiht wird, endet eine jahrzehntelange Auseinandersetzung um die Platzgestaltung. Die Wehlheider wünschten sich in den 70er Jahren einen Platz, der mit Markt, Stadtteilfesten, Spielmöglichkeiten, Flohmarkt und Biergarten "wesentlich zur Attraktivität des Wehlheider Platzes als Zentrum des Vorderen Westens" (Stadtverordneter von Rüden) beiträgt: Die Hartnäckigkeit der Wehlheider Bürger zwang die Stadt, die ursprüngliche Absicht der Planer, die Fußgänger unter die Autofahrbahn zu verbannen, aufzugeben. 1983 wurde dann endlich der Wochenmarkt eingerichtet.

Von hier, einem Brennpunkt der Gegenwartsprobleme des Stadtteils, riskiert der Wehlheider gelegentlich einen wehmütigen Blick in die Vergangenheit: auf die nördliche Allee-Seite, in den verlorenen Vorderen Westen. Vis àvis der Fennelschen Restauration, trat am 1.4.1873 eine Postexpedition ins Leben (Hessische Morgenzeitung). Von hier verkehrte zweimal pro Tag die Güterpost und einmal täglich die Briefpost zwischen Kassel und Wehlheiden; 1907 wurde das Kaiserliche Postamt Nr. 7 in die Kaiserstraße verlegt. Der ehemalige Wehlheider Hof fristete lange sein Dasein als Lagerhalle, inzwischen wird er wieder gastronomisch genutzt.

Der von hier erkennbare Turm der Adventskirche, der Wehlheider Kirche, erinnert an die Schmach der Vereinigung Wehlheidens mit Kassel. Der selbstbewusste, aber auch eigenwillige Beschluss, die erste eigene Kirche eben nicht im Dorf zu lassen, sondern diese in den fast unbebauten Raum nördlich der Allee zu setzen, leerte die Gemeindekasse. Nach Kanalisations- und Kirchenbau fehlten dort eine halbe Million Goldmark. 1899 blieb den Wehlheidern nichts anderes mehr übrig, als den Wettlauf mit Kassel aufzugeben und sich eingemeinden zu lassen. Wehlheiden verlor zwar seine Schulden, büßte dafür aber seine Selbstständigkeit ein, Kassel gewann 5.000 Bürger und Bürgerinnen und sprang über die magische Grenze 100.000 in der Einwohnerstatistik, wodurch es endlich zur Großstadt avancierte.

Wer an der Jugendstilzeile der Allee stadteinwärts geht, biegt am 3. Welt-Laden und Energieladen in die erste in Kassel geschaffene verkehrsberuhigte Zone ein. So verschieden wie die Bewohner dieser Straße ist die Akzeptanz dieser verkehrsberuhigten Zone. Hart traf es das Café vis àvis, dessen Gräfestraßenfeste aus den frühen 80er Jahren Episode bleiben werden. Die Feste, Frauen- und Schwulentage überforderten die Toleranz des Hauseigentümers und alteingesessener Nachbarn. Das vis'àvis mußte in den Vorderen Westen auswandern, jetzt residiert dort ein Yuppie-Friseurladen.

Offen ist die Zukunft des Gebäudes der A. v. Droste-Hülshoff-Schule. Mit der auslaufenden schulischen Nutzung des Gebäudes Ende der 80er Jahre sehen sich Ortsbeirat und Vereine endlich einem schon 1954 geäußerten Wunsch nach einem Bürgerhaus nahegekommen, während die Stadt hartnäckig an ihrem Plan festhält, eine andere Schule dort einzuquartieren. 1975/76 fiel das hohe Walmdach und der Dachreiter des 1902 entstandenen Schulgebäudes der Erweiterung der Schule zum Opfer: Ein modernistisches Stockwerk wurde aufgesetzt. Das Areal der Droste-Schule war im 19. Jahrhundert die Wehlheider Bleichwiese. Dort soll, wenn der Bürgerhauswunsch realisiert werden kann, ein Freizeitpark entstehen.

Mehr Erfolg als die Erwachsenen haben bisher die Wehlheider Jugendlichen. Im Keller der Droste-Schule öffneten nach der Besetzung eines Hauses durch Jugendliche 1975 die "Wehlheider Jugendräume" und konnten bis heute erfolgreich gegen alle Schließungsmaßnahmen verteidigt werden. Der Magistratsmeinung, die niedrige Jugendkriminalität in Wehlheiden erlaube die Schließung, hielten die Jugendlichen die Frage entgegen: "Müssen wir erst Brüche machen und Autos klauen, damit wir unsere Jugendzentrum behalten können?"

Als in Beton gegossener Zeuge der weitgehenden Zerstörung Wehlheidens im II. Weltkrieg und für viele Wehlheider Erinnerungen an zahlreiche dort verbrachten Bombennächte, harrt der Gräfe-Bunker auf eine sinnvolle Verwendung. Wie andernorts üblich, wurde der Bunker bis in die 50er Jahre als Asyl für Obdachlose und Nichtseßhafte genutzt. Wehlheider SPD, Kasseler Friedensbewegung und die Stadtteilinitiativen Zähe Tauben und Wehlheider für den Frieden sehen in dem Bunker -- ein traditioneller Zwischenstopp der Ostermärsche -- ein Denk-Mal. Die Stadt hingegen, die sich 1983 zur atomwaffenfreien Zone erklärte, hält an der Möglichkeit der Nutzung als Bunker fest und bewertete 1987 die Anbringung eines mahnenden Großfotos, das zum Nachdenken über die Sinnlosigkeit des Zivilschutzes anregen sollte, als eine die Bunkerfunktion beeinträchtigende Sachbeschädigung. Mit dem Hinweis auf ihre Reinigungs- und Instandhaltungspflicht entfernte die Feuerwehr das Foto, die Zähen Tauben machten ihrem Namen Ehre und brachten das Foto kurz darauf wieder an. Das Ringen um die Sinngebung des Sinnlosen hält bis heute an.

Fachwerkhäuser in der Gräfestraße(© www.weber-fotografie-kassel.de)

Der Kontrast zur verkehrsberuhigten Zone erwartet uns am Ende der Schönfelder Straße, die Nord-Süd-Hauptverkehrsachse Kassels. Hier befand sich eins die legendäre und von vielen vermißte Hacienda, eine Discothek, die 1977 auf polizeiliche Anordnung als Dealer-Treff und Umschlagplatz für Drogen geschlossen wurde. Mit der Schließung verloren auch viele andere ihren nächtlichen Bezugspunkt, selbst Udo Lindenberg soll nach seinen Auftritten in Kassel dort eingekehrt sein. Nebenan ist die Geschäftsstelle der Turngemeinde Wehlheiden, die 1868 als erster Turnverein im damaligen Landkreis Kassel gegründet wurde und heute regelmäßig die Wehlheider Kirmes ausrichtet.

Im von der Kirchengemeinde 1920 erworbenem Pfarrhaus lebte bis zu dessen Zerstörung im Krieg Pfarrer D. Adolf Wüstemann, nach 1945 erster Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen und Waldeck. Wüstemann gehörte früh der bekennenden Kirche an und ließ sich auch dann nicht einschüchtern, "... wenn die Gestapo seinen Gottesdienst des öfteren besuchte, sein Haus durchsuchte, von ihm stammende Aufzeichnungen beschlagnahmte" (Oberbürgermeister Hans Eichel, dessen Familie mit Wüstemann befreundet war). Ebenfalls in diesem Pfarrhaus stellte der Marburger Theologieprofessor Rudolf Bultmann 1941 auf Bitten einer Gruppe von Pfarrern der Bekennenden Kirche während der dort monatlich stattfindenden Gespräche sein Programm der Entmythologisierung vor.

Ein kleiner Abstecher, vorbei am Vollwert-Restaurant Avocado, führt das technikinteressierte Publikum zur Ingenieur-Schule, den technikwissenschaftlichen Fachbereichen der Gesamthochschule. Der Name ist geblieben, obwohl die ehemaligen Ingenieurschulen für Maschinenbau, Elektrotechnik, Bauingenieurwesen und Architektur 1971 Teil der neugegründeten Gesamthochschule Kassel geworden sind. Der Aufstieg lohnt sich besonders am 1. Mai, wenn der DGB dort ein an die Kundgebung vor dem Rathaus anschließendes Kulturprogramm und Volksfest bietet, eine durchaus traditionsbewusste Nutzung der Ingenieur-Schule. Denn dort befand sich früher die Actienbrauerei samt Aktienpark. Die Weigerung der Brauerei, ihren Saal und Park dem Arbeiterverein zur Verfügung zu stellen, löste den Wehlheider Bierkrieg aus, und dieser Bierkrieg soll, so erzählt man sich, der Funke, der zur Gründung eines sozialdemokratischen Ortsvereins führte, gewesen sein.

Klagte das "Casseler Volksblatt" einst über die Wehlheider Arbeiterschaft "die sitzen lieber im Gaststübl und kloppen Karten", so war im Jahre 1899 die Gelegenheit gekommen, "die immernoch schlummernden Geister wachzurütteln" und zu beweisen, daß auch die Wehlheider Arbeiterschaft "auf dem Damme ist". Das "Volksblatt" rief zum Boykott der Actienbrauerei und aller Händler und Gaststätten in Kassel und Umgebung auf, die Actienbier verkauften und ausschenkten: "Kein Arbeiter darf in Wirtschaften verkehren, wo Actienbier verzapft wird" und konnte bald jubilieren: "Wer trinkt denn heute noch Actienbier?" Bald musste die Brauerei zurückstecken und als Kompromiss die Faßhalle für die Arbeitervereine öffnen, doch diese wollten alles. Der Boykott wurde fortgesetzt, 1901 schließlich fusionierte die Brauerei mit der Herkulesbrauerei.

Wehlheider Spezialitäten

Um die Jahrhundertwende war Wehlheiden längst ein Arbeiterwohndorf. Arbeiterorganisationen, wie die starken Gewerkschaftsfilialen der Holz-, Bau- und Erdarbeiterverbände, der Arbeiterturnverein, der Gesangsverein "Brüderlichkeit", der Arbeiterfortbildungsverein, bestand bereits, als sich 1899 im "Anker" eine sozialdemokratische Parteiorganisation gründete. Zwar mögen die erfolgreichen Aktionen gegen die Actienbrauerei die Wehlheider zu dieser Initiative auch beflügelt haben, Anlass der Gründung war aber wohl die Wahlkampagne zu den preußischen Kommunalwahlen. Die zahlenmäßige Stärke der Wehlheider Organisation, die Eigenständigkeit der Gewerkschaftsfilialen, führt zur Festigung des organisatorischen Sonderstatus der Wehlheider SPD. Schon 1897 stellen die Wehlheider Sozialdemokraten einen Parteitagsdelegierten, der auch nach der Eingemeindung Wehlheidens nach Kassel nicht aufgegeben wird. Die Eingemeindung bringt für die Arbeiterschaft einige Vorteile. Einerseits den Anschluss an das Kasseler Gewerbegericht, andererseits kommt der Vereinigungsvertrag, der Wehlheiden auf Dauer von 12 Jahren 6 aus dem Ort zu wählende Stadtverordnete zugesteht, den Autonomiebestrebungen entgegen. Auch prominente Sozialdemokraten kann Wehlheiden aufweisen. So wohnte Friedrich Ebert ein halbes Jahr in Wehlheiden, und Philipp Scheidemanns Mutter war gebürtige Wehlheiderin. Die Verbindung zur Parteiprominenz änderte jedoch nichts daran, daß sich ein äußerst lebhafter Verein entwickelte, der gelegentlich den übergeordneten Parteiinstanzen in die Quere kam. 1952 z.B. liegt dem Kasseler Parteitag ein Antrag vor, mit dem erreicht werden soll, daß grundsätzliche Fragen im Rathaus und im Landtag zuvor in Delegiertenversammlungen besprochen und beschlossen werden sollen. Auf dem Nürnberger Parteitag 1986 brachten die Wehlheider einen Antrag ein, der dann anstelle des Antrags des Parteivorstandes Grundlage der wirtschaftspolitischen "Nürnberger Beschlüsse" wurde. Die Verwunderung darüber führte bei PPP zur Verwirrung, als Antragsteller stellte PPP den Ortsverein "Wehlheiden" bei "Hannover" vor. Dies brachte die Wehlheider in Wallung und zur Vermutung, sie hätten wieder einmal die Parteiobrigkeit zum "weh leiden" gebracht. Bei der Vorbereitung von Parteitagen wird seitdem als besonderes Marterwerkzeug die Drohung "Dann bringt der Ortsverein Wehlheiden einen Antrag ein!" parat gehalten. Aber auch sich selbst machte es der Ortsverein nicht leicht. In gewissen Abständen wurde immer der Vorsitzende des Ortsvereins gestürzt. Ein Betroffener dazu: "Ich war dreimal am Sturz eines Vorsitzenden beteiligt, zweimal als Subjekt, einmal als Objekt. Zweimal half ich, einen Vorsitzenden zu stürzen, das dritte Mal war ich selbst dran." 1970 fand man für dieses Problem eine salomonische Lösung -- aus Sicht der 68er Jusos natürlich eine antiautoritäre Lösung: ein kollektiv verfaßter Vorstand kommt ohne Vorsitzenden, Schriftführer und ohne Beisitzer aus, das Rotationsprinzip kultiviert den Drang, den Vorstand zu stürzen. Politische Energien werden freigesetzt, die sich sonst im Saal, manchmal auch handgreiflich, entluden. Für Turbulenzen sorgen die Wehlheider nun woanders.

Die Grünfläche vor der Ingenieur-Schule hieß früher Wilhelmsplatz und war, zur Freude der Wehlheider Kinder, mit Rudolfs Karussell in der Mitte bestückt. Ansonsten hat sich die Ingenieur-Schule einen Ruf als Volksküche erworben: Die inzwischen als Mensa genutzte Aula erlebte seit den 70er Jahren die produktiven Auseinandersetzungen der Kasseler Ausläufer der Studentenbewegung, studentische Vollversammlungen, die strategischen Diskussionen der Kasseler Linken. In den Räumen des Asta startete so manche grüne und sozialdemokratische Karriere -- in Stadtverordnetenversammlung, Landtag und hohe Parteistellen.

Der Tum der Ingenieur-Schule Kassel (© www.weber-fotografie-kassel.de)

Die Ingenieur-Schule kann, wer will, über einen lauschigen Fußweg verlassen. Dieser direkte Gang zur Belgier Siedlung bietet zwar mehr Muße und im Sommer mehr Schatten, entzieht aber den Blick auf manches Treppenhausidylle.

Zwischen Adolfstraße, Heinrich Heine-Straße und Ludwig Mond-Straße, von der in Panzerbreite ausgeführten Belgischen Straße durchschnitten, liegt die in den 50er Jahren in 90 Tagen für die Familien der in Kassel stationierten belgischen Truppenteilen errichtete "Belgische Siedlung". Als die Besatzer abzogen, übernahm die Bundeswehr den größten Teil, die Belgische Schule -- jetzt Lückert-Schule -- bekam die Stadt zugesprochen, mit der Belegung der Siedlung ließ sich der Bund viel Zeit. Eine geschlossene Einfamiliensiedlung stand leer. Am 6.5.71 besetzten Studenten die ersten Häuser. Stadt Kassel und städtische Polizei verhielten sich konziliant (darin von der örtlichen SPD bestärkt), Strom und Wasser wurden wieder angeschlossen, die Eigentümerin, die Bundesvermögensverwaltung stimmte zu, daß die städtische GWG als Generalmieterin diese Häuser übernimmt und weitervermietet. Die Bundesvermögensverwaltung zog bald darauf ihre Zusage zurück. Am 13.6.71 wurden die nächsten Häuser besetzt; diesmal von zwei Familien mit Kindern, Lehrlingen und Schülern: "Diese Häuser sind Volksvermögen. Darum sind die besetzt. Wir fordern Mietverträge." Trotz der Absicht der Polizei, weitere Besetzungen zu verhindern, wuchs die Zahl der besetzten Häuser und Besetzer auf 28 Häuser mit 200 Besetzern bis zum Schluß auf 32 Häuser mit 250 Besetzern. Am 6. Juli wurde dann geräumt. 300 Polizisten, von denen einer mit einem Topf roter Farbe übergossen wurde, schützen die Räumungsaktion. Das Bürgerselbsthilfekomitee der Besetzer existierte noch einige Zeit, inzwischen sind die Häuser längst "normal" belegt, die Bundesvermögensverwaltung hat aber Schwierigkeiten, ausreichend Bundeswehrangehörige zu finden, die hier einziehen wollen. Ein Nachspiel mit einer sehr langen Vorgeschichte hatte die Belgier-Siedlungsbesetzung am 4.5.72 in Zürich, Essen, München und Göttingen und am 7.5.72 in Kassel: die gemeinsame Uraufführung von Rolf Hochhuths Stück "Die Hebamme". 1963 konzipiert, regte die Besetzung der Belgier-Siedlung Hochmuth zum Fertigschreiben an. Ein Artikel, der das Obdachlosenproblem thematisierte, "Der Klassenkrieg ist nicht zu Ende", 1965 im SPIEGEL erschienen, provozierte den damaligen Kanzler Erhard zur folgenden Äußerung: "Ich habe keine Lust, mich mit Herrn Hochhuth zu unterhalten über Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich meine, das ist alles dummes Zeug. Die sprechen von Dingen, von denen sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben (...). Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an." Die weitere Beschäftigung mit dem Thema führte einerseits zur Fertigstellung des Stücks, andererseits zu einer Petition an Willy Brandt, aufgrund der Rolf Hochhuth wegen Volksverhetzung angezeigt wurde. Daraufhin erklärte Hochhuth unter Berufung auf den Widerstandsparagraphen der hessischen Verfassung: "Das Volk muß aufgehetzt werden gegen Zustände, wie sie in den Slums der Bundesrepublik nahezu einer Million Mitbürger dem Elende ausliefern."

Wir wenden uns jetzt dem Ortsteil zu, der den Ruf Wehlheidens, Chaos auszustrahlen, begründet. Planungs- und Spekulationsruinen des 19. Jahrhunderts, der ungeordnete Weiterbau in späteren Zeiten summieren sich wie in einem Kuriositätenkabinett zu einem "Freilichtmuseum von 200 Jahren Städtebau und Architektur" (Prof. Kopetzky): "nichts davon ist fertig geworden". Baustile, Wohngebäude, Werkstätten und Gärten koexistieren und konkurrieren miteinander und teilen den Verfall, der jenes Idyll schafft, das die unbestimmte Sehnsucht des Städters nach einer beschaulicheren Vergangenheit weckt. Dennoch: Die Gegenwart bleibt ständig präsent, der Ausdehnungswille einer Niederlassung eines großen Automobilkonzerns, dort wo früher die Gaststätte Demmlers Schokoladenfabrik stand, bedroht die dörflichen Reste Wehlheidens.

Noch 1885 meldete die Hessische Volkszeitung

daß das in der Nähe des Habichtswaldes zwischen der weltberühmten Wilhelmshöhe und der Stadt Cassel so romantisch gelegene Wehlheiden das größte und schönste Dorf in der Provinz Hessen-Nassau geworden ist und seine Einwohnerzahl bereits 5.000 ausmacht.

Vom alten Ortskern sind nur noch Fragmente früherer bäuerlicher Bausubstanz erhalten. Schon um 1935 war das Dampfschiff, eine architektonische Groteske aus dem 19. Jahrhundert abgerissen worden, Ende April 1968 folgte nach seinem Zusammensturz das lokalgeschichtlich bedeutsame Haus von Stracks Bierstuben. In dieser Gaststätte, die zu den ältesten in Wehlheiden zählte, wurde am 18.5.1868 die Turngemeinde Wehlheiden gegründet. Helmut Schnitzerling, langjähriger Vorsitzender der TGW und unmittelbarer Nachbar der Bierstuben, konnte nur noch die an die Vereinsgründung erinnernde Gedenktafel retten.

Die Grundstücksspekulanten des 19. Jahrhunderts, der Zuzug von Beamten, Kaufleuten, Handwerkern, Fabrikanten und Gastwirten, gewerbliche Ansiedlungen verwandelten das Dorf der Bauern und Tagelöhner in eine westliche Enklave des alten Kassel, in der auch die Arbeiter der Kasseler Industrie billigen Wohnraum und die Möglichkeit, nebenbei Schafe und Schweine zu halten, fanden. Während der vornehme Vordere Westen, die nördlichen Gemarkungsteile, weitgehend vollendet wurde, fehlte in Alt-Wehlheiden bald das Geld. Bebaut wurden häufig nur die attraktiven Eckgrundstücke, während die Anschlußbebauung ausblieb und erst später mit Gebäuden in anderen Stilen fortgesetzt wurde.

Nicht fertiggestellt wurde die Fichtestraße. Nur ein Straßenschild weist auf eine geplante und lediglich in Adressbüchern existierende Straße hin, die den alten Ortskern mit dem Westen verbinden sollte. Dort verschwindet seit 1927 unter einem Spielplatz die Drusel in einem unterirdischen Rohrsystem. Bald darauf verschwand auch die kleine Weide, an die heute nur noch die Kneipe gleichen Namens erinnert, eine alte Dorfkneipe, die der Möchtegern-Jetset zu seinem Treffpunkt auserkoren hat, sowie der alte Philosophenweg, der an der (jetzt verrohrten) Drusel entlangführte, und der Domänenweg unter dem Teer der Autostraße. Der plötzliche Abbruch der Kopfsteinpflasterung macht sichtbar, wo die Spekulation in Wehlheiden mangels finanzieller Mittel stecken blieb und Straßen unvollendet blieben.

Nur im geringen Maße wird die Liebe der Wehlheider zur Post, worauf schon die am 14.1.1928 im Rahmen eines Journalistenballs im Stadtpark aufgeführte Revue In der Wehlheider Weltpost verweist -- Regie: Theo Lingen!, von der Postverwaltung erwidert. Über das alte Postamt in der Wilhelmshöher Allee schrieb die Morgenzeitung 1873, wenige Monate nach seiner Eröffnung: "Die seit dem 1. April ins Leben getretene Postexpedition zu Wehlheiden ist bis heute derart hinter der Rentabilitätsberechnung zurückgeblieben, daß der Fortbestand wohl kaum als gesichert anzusehen ist." Ähnlich lautete die Argumentation der Oberpostdirektion Frankfurt 1977/78 gegenüber dem neuen Wehlheider Postamt 17, die die Wehlheider aber nicht überzeugte. Die Kunde von der Querköpfigkeit der Wehlheider erreichte schließlich auch die Bundesregierung. Der damalige Postminister Gscheidle fühlte sich vom Wehlheider Proteststurm "tief beeindruckt". Diese "Protestaktion ist im Bundesgebiet ohne Beispiel", gratulierte die Deutsche Postgewerkschaft. 3.000 Unterschriften, Wandzeitungen und regelmäßige Schreiben an die Großen dieser Welt - ein Wehlheider soll gefragt haben: "Habt Ihr auch schon dem Papst geschrieben?" - verfehlten nicht ihre Wirkung: Das Postamt 17 Wehlheiden blieb bestehen.

Das Haus des Düsseldorfer Hofes markiert die Grenze zum südlichen Teil der Gemarkung Wehlheiden. Die Flurbezeichnung In den Sümpfen kommt nicht von ungefähr: Bis in die 20er-Jahre dieses Jahrhunderts wurde das Gebiet - auch Grabeland genannt - mehr schlecht als recht landwirtschaftlich genutzt, wie es gerade der Grundwasserspiegel gestattete. Auf diesem Grund entstanden Siedlungen für Beamte und Angestellte, die sich mit ihren Einfamilienhäusern von der Bebauung im Arbeiter- und Handwerkerstadtteil Wehlheiden unterschieden und die soziale Struktur Alt-Wehlheidens nochmals gründlich veränderten. Das Dorf Wehlheiden wurde endgültig zum städtischen Wohnviertel. Die Entstehung und Geschichte der Schupo-Siedlung hat einer ihrer Bewohner, R. Otto Speck, nachgezeichnet:

Zu dieser Zeit (1922ff.) bot vielen Heimkehrern die neugegründete Sicherheitspolizei (eine Spezialtruppe der Weimarer Republik für innere Unruhen - d. Verf.) die Möglichkeit, wieder zu einer Einnahme zu kommen. Viele hatten ja außer dem Kriegshandwerk nichts weiter gelernt. Manche wollten eine Ehe schließen oder hatten sie bereits geschlossen, aber ein schweres Handicap war die Wohnungsfrage. Wohnungen waren Mangelware, größere Wohnungen wurden aufgeteilt, damit die Menschen nur einigermaßen untergebracht werden konnten. Auf Initiative des Polizeioberleutnants Grothkarst schlossen sich 40 Sipo-Beamte zu einem Siedlungsverein zusammen, erwarben die Grundstücke und erstellten gemeinsam die Siedlung. Die Erbauer hatten jedoch wenig Freude an ihren Häusern und die meisten auch wenig Zeit, sich damit abzuplagen. Die Siedler spürten bald, weshalb die Flur "in den Sümpfen" heißt: Wasser stand im Keller. Versetzungen und Schulden reduzierten die Zahl der ursprünglichen Siedler, viele erlebten nicht mehr, wie ihre Siedlung nach 1945 schließlich an das Stromnetz angeschlossen wurde. 1974 waren noch 15 Häuser im Eigentum ihrer Erbauer bzw. ihrer Nachkommen, in drei Häusern wohnten noch Erstbesitzer und Bauherren, von den 41 Häusern haben noch heute die ursprünglichen Dächer.

In der Flur, in der lange Zeit als einziges Haus der Gasthof Jägerhaus, dessen Pächter als Hobby einige Tiere in Käfigen hielten, stand, entstand in den 20er Jahren westlich des Zwehrener Wegs die Feuerwehrsiedlung, und Anfang der 30er Jahre wurde östlich der Schupo-Siedlung weitergebaut; schließlich baute man als Gemeinschaftswerk der in den 20er Jahren kurzfristig einmal vereinten Wehlheider Sportvereine, den Tura-Platz, er diente damals auch als Kirmesplatz. Später mußte er dem Platzbedarf des benachbarten botanischen Gartens weichen.

Vom botanischen Garten aus gelangen wir zum Schloß und Park Schönfeld und zur 1907 erbauten Jägerkaserne, heute beherbergt das Gebäude die Standortverwaltung. Für Generationen Kasseler Wehrpflichtiger beginnt und endet in der Jägerkaserne die militärische Karriere; da auch das Kreiswehrersatzamt und KDV-Prüfungsausschüsse ihren Sitz in diesem Gebäude haben.

Wenig Freude hatten bisher die Eigentümer des Schlosses Schönfeld mit diesem kleinsten unter den hessischen Schlössern. Erbaut am Standort des ersten mittelalterlichen Kasseler Ferenspitals, ist das "Schlößchen" heute selbst ein Pflegefall. Neben den anderen Kasselern Schlössern wirkt Schönfeld bescheiden, und bescheiden waren wohl auch die Mittel des Erbauers, des Obersten von Schönfeld, der sich das Geld aus der Kriegskasse "borgte" und Schönfeld bald verschuldet verkaufen mußte. An der von ihm hinterlassenen Hypothek und den verwandten billigen Baumaterialien trägt noch die heutige Eigentümerin, die Stadt Kassel.

(© www.weber-fotografie-kassel.de)

Mit seiner Struktur, zwei durch eine geschlossene, doppelgeschossige Galerie verbundene Seitenflügel, wirkt das Schloß Schönfeld recht eigenartig; seine Reize erhält es durch die Lage, seine intimen Raumverhältnisse und durch die umliegenden Teiche. Der Bankier des westfälischen Königs Jerome, Karl Jordis, (der "hessische Rothschild) erwarb Schönfeld 1806. Ludovicia Jordis, geb. Bretano, führte einen großen Salon und Schönfeld wurde zur Heimstatt der Romantiker Achim von Arnim, Clemens Bretano, der Brüder Grimm, Werner Henschel, des Begründers der historischen Rechtsschule, Savigny. In Schönfeld wurde das Schattenspiel "Das Loch in der Wand" uraufgeführt, "Trösteinsamkeit", die Zeitung für Einsiedler herausgegeben, die Fortsetzung von "Des Deutschen Knaben Wunderhorn" beschlossen.

Jordis mußte an Jerome verkaufen, der in erzwungener Ehe mit Margarete von Würtemberg lebend, die "verschwiegene Stätte für intime Liebhabereien", wie der Schloß-Historiker Holtmeyer das Treiben des "galanten Herrschers" umschrieb, nutzte. Der nächste Eigentümer, der Kurhesse Wilhelm II., kehrte die Situation um. Um sein außereheliches Verhältnis mit der Gräfin Reichenbach ungestört ausleben zu können, schob er seine Gattin Auguste nach Schönfeld ab, die hier auch pflichtschuldigst kräftig sublimierte und schöngeistigen Bestrebungen nachging. Wiederum trafen sich hier die Grimms und Henschels, aber in ihren Abendgesellschaften auch die kurhessische Opposition.

Nach mehreren weiteren Eigentümerwechseln erwarb 1906 die Stadt Kassel das inzwischen ziemlich verwahrloste Anwesen. Seitdem ging es dort wieder etwas fröhlicher und volkstümlicher zu. Der Pächter Kreibe betrieb im Schloß eine Gastwirtschaft und im Park eine Menagerie, Zirkusgruppen gastierten dort, und Wehlheiden traf sich zum Tanz. Die Nähe zum Tura-Platz, der auch Kirmesplatz war, ließ Schönfeld zu einem Mittelpunkt des Lebens im Stadtteil werden.

Nach Zerstörung im Krieg und Wiederaufbau wurde Schönfeld in den 50er Jahren zu einer beliebten und vielbesuchten Erholungsstätte der Kasselaner, doch so recht wollte die "kleine Kulturinsel der Stadt" (Hessische Nachrichten) nicht reüssieren. Mit wenig Erfolg versuchten sich mehrere Pächter mit gastronomischen Betrieben in allen Preisklassen.

(© www.weber-fotografie-kassel.de)

Seit einigen Jahren steht das "Schlößchen" wiederum leer. Um einen weiteren Substanzverlust durch Vandalismus zu verhindern, hat die Stadt zwei junge Leute als Schloßwächter einziehen lassen. Die Stadt Kassel und die Gesamthochschule sehen eine Zukunft für Schönfeld als Gästehaus der GhK, doch das Land Hessen kann sich zu keiner Entscheidung durchringen.

P.S. Die sozialdemokratische Frauenrechtlerin Lilli Braun hat in ihren Memoiren ein Geheimnis offenbart, das wir dem Besucher des Schlosses nicht vorenthalten wollen. Sie war die Tochter einer "natürlichen" Tochter Jeromes, des westfälischen Königs, der in Schönfeld sein Verhältnis mit Diana von Pappenheim pflegte. Diese Jennie von Pappenheim ging später an den herzoglichen Hof in Weimar und wurde dort die Erzieherin der Enkelkinder Goethes. Was die damalige deutsche Öffentlichkeit empörte, war die Vorstellung, daß sie, die Tochter des Usorpators Jerome, am Hofe zu Weimar befreundet war mit einer Weimarer Prinzessin, die später Gattin des Preußen-Königs und Deutschen Kaiser Wilhelm I wurde.

Heute befindet sich im Park Schönfeld der Klangpfad, ein Projekt, das Musik, Kunst, Natur, Spaß und Spiel, Bewegung und Begegnung im öffentlichen Raum miteinander verbindet (© www.weber-fotografie-kassel.de)

Schon wieder sind wir an einem Ort, der untrennbar mit der Querköpfigkeit und Kampfeslust der Wehlheider verbunden ist. Provoziert wurde sie in diesem Fall von einem einst im 18. Jahrhundert in Kassel ansässigen holländischen Tabakfabrikanten mit Namen Hendrik Thorbecke, der seine Tabakfabrikation intensivieren wollte. Er pachtete das Schloß Schönfeld und plante auf dem Grund die Errichtung einer Windmühle. Dort, wo er die Grenze seines Landes vermutete, zog Thorbecke eine Holzwand, was die Wehlheider Nachbarn Thorbeckes, die den Landstreifen für sich beanspruchten, als klammheimliche Enteignung auffaßten. Eine gütliche Einigung war nicht möglich. In der Nacht zum 7.3.1794 rückten unter Glockengeläut 20 mit Hacken und Äxten bewaffnete Wehlheider unter Führung von Bürgermeister Kersten aus und zerstörten die Grenzmauer. Anschließend wurde auf Kosten des Bürgermeisters kräftig gefeiert. Der Ururenkel des Bürgermeisters, Kurt Kersten, beschrieb das weitere Geschehen:

Den Bauern geschah nichts. Thorbecke wagte nicht, die Wand wieder aufzurichten, Schuchardts (der Wehlheider Nachbar, der den Streit ausgelöst hatte) Schweine unterwühlten sie, und so blieb sie liegen. Thorbecke fürchtete sich vor den Wehlheidern. Eine Weile später wandte er sich an die Oberrentkammer, die ihn aber abwies. Endlich kam es zu einem Termin vor Gericht.. Dabei stellte sich heraus, daß die Grenze überhaupt nicht bekannt war. Der so heiß umstrittene Streifen war herrenlos. Es gab ein großes Gefeilsche, und erst nach einem Jahr verglich man sich. Thorbecke behielt den Streifen, zahlte aber den Wehlheidern eine Entschädigung. Thorbecke gab 1798 Schönfeld auf und baute die Mühle auf dem Areal "Auf dem Graß". Später entstand dort eine weitere Mühle, nach ihrem ersten Besitzer Pempel "Pempelei" genannt. Nach Pempel nutzte eine Farbenfabrik die Mühle, um aus Braunkohle "Kasseler Braun" zu mahlen, zum Schluß diente der verfallene Bau nur noch als Farblager. Die 1938 rekonstruierte Mühle wurde im Krieg durch einen gezielten Bombenabwurf restlos zerstört.

Wir verlassen das Areal durch den Park, kommen an zwei Teichen vorbei und erreichen an der Buchenau-Kampfbahn wieder festen Boden unter den Füßen.

In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich die 1873 für maximal 450 Häftlinge erbaute Justizvollzugsanstalt. In ziemlich unwegsames Gelände gesetzt, galt sie in ihrer Zeit als hochmodern, da sie nach dem panoptischen System (von einer Stelle aus hatte man einen Blick auf alle Zellen) und mit Einzelzellen für alle Häftlinge angelegt war. Die Zentralheizung musste allerdings zehn Jahre später erneuert werden, da das Rohrsystem der Heizung den Häftlingen die Möglichkeit zur bequemen und unerlaubten Unterhaltung bot. Wo heute die Sozialtherapeutische Anstalt steht, erhielt das Königliche Zuchthaus 1885 einen eigenen Friedhof; die letzte Hinrichtung mit dem Handbeil wurde am 30.6.1936 vollzogen. Während des Faschismus waren in diesem Gefängnis zahlreiche politische Häftlinge und ausländische Zwangsarbeiter inhaftiert. Die Deutschlandberichte der Sopade meldeten 1936:

Die Strafgefangenen im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden sind zum großen Teil in Einzelzellen untergebracht. Die Verpflegung ist nicht gut. Morgens gibt es zwei Scheiben Brot, mittags 3/4 Liter Suppe und eine Scheibe Brot, abends 3/4 Liter Suppe und wieder eine Scheibe Brot oder Hering mit Pellkartoffeln oder zwei Scheiben Brot, dazu Fett für eine Scheibe und Käse oder Wurst für die andere. Bis zum Kriegsende stieg die Zahl der Gefangenen, die für die Firma Henschel und die Firma Cassella in der Rüstungsproduktion (Ersatzteile für den Tiger-Panzer) arbeiten mussten, bis auf 3.000 an.

Der Widerstandsorganisation der politischen Häftlinge gelang es durch die Sorglosigkeit der Wachen, Waffen, zwölf komplette Schlüsselbunde und ein Radiogerät zu organisieren und in der Heizung zu verstecken. Fritz Erler, damals Mitglied der Gruppe Neu Beginnen und später sozialdemokratischer Wehrexperte, und der kommunistische Spanienkämpfer Willy Höhn, leiteten diese Organisation. Max Mayr, der Lagerschreiber von Buchenwald, damals ISK (Internationaler Sozialistischer Kampfbund), Karl Kuba, nach 1945 HBV-Gewerkschaftssekretär in Kassel, und der Anarchosyndikalist Willi Paul (FAUD), der, ebenfalls Spanienfreiwilliger, von Frankreich an die Gestapo ausgeliefert wurde, gehörten ebenfalls dazu.

Den Gestapomord in Wehlheiden konnte die politische Widerstandsorganisation nicht verhindern. Der Historiker Michael Jäger hat das Geschehen rekonstruiert:

*Die Häftlinge der Gestapo waren in einer besonderen Abteilung untergebracht, von wo am Nachmittag des 30. März (1945) auch die 12 Opfer der Erschießung geholt wurden. Über den Graßweg gelangte das Kommando zum Wehlheider Friedhof. Nach der Erschießung wurden die Leichen in einem Massengrab verscharrt. Unter den Ermordeten war der 28jährige Wolfgang Schönfeld, der von den Nazis als "Halbjude" verfolgt wurde. Ihm war es schon einmal gelungen, aus dem KZ Auschwitz zu fliehen. Vor 1933 bewohnte seine Familie das Haus Zwehrener Weg 22.Die Mehrzahl der Opfer des Gestapomordes waren ausländische Zwangsarbeiter aus den Kasseler Rüstungsbetrieben. Der verantwortliche Mörder, Franz Marmon, Gestapochef in Kassel, rechtfertigte während seines Prozesses 1952 die Tat damit, daß er in "Befehlsnotstand" gehandelt habe. Wegen eines ebenfalls von ihm angeordneten Massakers am Bahnhof Wilhelmshöhe, dem kurz vor Kriegsende 79 ausländische Zwangsarbeiter zum Opfer fielen, wurde Marmon zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Der Gestapomord in Wehlheiden blieb ungesühnt; Marmon konnte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen.

An das Geschehen erinnert eine Gedenktafel, die der Ortsbeirat Wehlheiden auf Antrag der SPD-Fraktion am 5.4.1985 auf dem Wehlheider Friedhof anbringen ließ. Wenige Tage später mußte Ortsvorsteher Georg Holstein die Gedenktafel in Sicherheit bringen lassen, da Alt-Nazis gedroht hatten "wir werden sie bald runterholen". Inzwischen ist die Gedenktafel fest verankert. Neben dieser Gedenkstätte erinnert eine weitere Gedenktafel an die Wehlheider Opfer der Bombardierung Kassels im 2. Weltkrieg.*

Vom Friedhof lohnt sich ein kurzer Abstecher zum Gebäude der 1935 eröffneten Landesfeuerwehrschule, das seit dem Umzug der Schule zur Dönche größtenteils leersteht und nur noch von der Umwelt-Gruppe der Polizei teilgenutzt wird. 1986 sollte hier eine zentrale technische Station für den gesamten Polizeibezirk Kassel eingerichtet werden, was den Wehlheidern allerdings nicht gefiel. Sie fürchteten um die Ruhe der Lebenden und der Toten und setzten sich durch.

Wir kehren über Heimbach und Friedensstraße in das Zentrum Wehlheidens zurück. Das Kreuz, das die Wehlheider tragen müssen, ist stadtweit als Wehlheider Kreuz bekannt. Von täglich 20.000 Fahrzeugen passiert, trennt und zerschneidet es den Stadtteil. Ebenso stadtweit bekannt als Austragungsort der Wehlheider Kirmes, und für die Wehlheider ebenso ärgerlich wie das Kreuz ist die daran anschließende Freifläche, die sich allen Bemühungen und Wünschen zum Trotz nicht zum Stadtteilpark mausert. Nur während der Kirmes gelingt es, den Verkehr von den Straßen und die geparkten Autos vom Platz zu verdrängen.

Für "Auswärtige" läßt sich das "Phänomen Wehlheiden", das Dorf in der Stadt ... nur schwer erklären (HNA). Denn alljährlich wandelt sich der Stadtteil wieder zum Dorf, wenn die Wehlheider mit Kirmesburschen und gewähltem Kirmesbürgermeister feiern. Seit 1949 wird die Große Wehlheider Kirmes in der heutigen Form veranstaltet und damals "... ahnte keiner, daß einmal eines der größten Volksfeste Kassels daraus werden würde" (TGW-Vorsitzender H.K. Leffler). Selbst Kassels jetziger Oberbürgermeister, der auch als Wahlleiter bei der Wahl des Kirmesbürgermeisters fungieren muß, kann sich einer gewissen Ehrfurcht nicht erwehren. "Die Wehlheider Kirmes ist etwas ganz besonderes. Im Grunde ist sie ... nicht zu fassen", soll er mal gesagt haben. Hoch ging es seit eh und jeh auf der Kirmes her. Seit Beginn ist sie Gegenstand zahlreicher Geschichten. Legendär ist die "Wagenrunge", das Symbol der Kirmes: Mit diesem Teil eines Leiterwagens soll ein auswärtiger Besucher des Festes einst erschlagen worden sein, worauf der Landgraf der Überlieferung nach anordnen ließ, daß in Wehlheiden die Wagenrungen vor jeder Kirmes zu polstern seien. Den Spaß ließen sich die Wehlheider jedenfalls nicht verdrießen, auch nicht im Jahre 1888: Kaiser Wilhelm I war gestorben, und im ganzen Lande war Staatstrauer angeordnet worden. Der Kaiser hätte sich keinen unpassenderen Moment aussuchen können, denn das "Dorf" befand sich gerade im letzten Stadium der Vorbereitungen des Großen Sommerfestes. Der Festausschuß mobilisierte den Bürgermeister, der beim Hofmarschall um eine Ausnahmeregelung nachfragte und bekam: "Die Wehlheider können tanzen" -- als einzige "Preußen". Was der Kaiser nicht schaffte, wurde in der Weimarer Republik von den Wehlheidern selbst bewerkstelligt: Aufgrund der Spaltung der Arbeiterbewegung, die bis in die Vereine hineinreichte, kam keine gemeinsame Kirmes zustande, jeder feierte sein eigenes Fest. Im Faschismus und während des II. Weltkrieges fand überhaupt keine Kirmes mehr statt.*

Wehrfreude kommt auf, wenn die Panzer der Kasseler Garnison auf dem Weg zum Verladebahnhof das Kreuz passieren und das Geschirr in Schränken und auf Tischen zum Tanzen bringt. Auf dem Platz stand schon einmal das Schild "Hier baut ... ein Bürgerhaus", meistens parken hier jedoch Autos, denen die von den Wehlheidern selbst angelegten Grünflächen längst wieder zum Opfer gefallen sind. Dem 1973/74 als Ersatz für ein Bürgerhaus gebauten Saal einer Gastwirtschaft mangelt es dagegen an Bürgern, deshalb wird dort inzwischen Tanzunterricht gegeben.

Nachdem Krieg und Wiederaufbau das alte Zentrum des Dorfes (Stadtteils) gründlich zu seinem Nachteil veränderten, erinnert nichts mehr an das Gemeindehaus, das Barfüßergymnasium, das auch der Wehlheider Stadtverordnete, Stadtrat, Kasseler Stadtälteste und Mundartdichter Papa Nagel besucht hat; das Bürgermeisteramt, die Zahlstelle für Erwerbslose; die Gaststätte Anker, in der 1899 die SPD gegründet wurde; die Stocksche Schmiede und das Gasthaus Zur hohen Treppe, Schauplatz eines spektakulären Kriminalfalls in den 20er Jahren (ein eifersüchtiger Wehlheider erschoss seine Freundin); die Rabenburg, ein Arme-Leute-Haus, das ungefähr dort stand, wo heute der Biergarten der Backstube, einer Wehlheider Alternativ-Kneipe, angelegt ist; kaum noch auffindbar ist das Schißgäßchen , die Ankergasse. Aber auch hier präsentiert sich dem Spaziergänger das Wehlheider Freilichtmuseum der Architektur und Städteplanung: Ein letzter Rest der dörflichen Vergangenheit in der Kochstraße; in der Kohlenstraße das Gasthaus Goldener Anker. Früher hatte hier Fritz Richard einen Lebensmittelladen. Er, seine Tochter und eine Verkäuferin stellten während des Faschismus ihre Privatadresse einer Widerstandsgruppe zur Verfügung, damit die Häftlinge im Druseltaler Außenlager des KZ Buchenwald Post von ihren Angehörigen erhalten konnten. Ein paar Schritte weiter findet sich ein vom Bauhaus beeinflusstes Wohnhaus, das rote Palais, dessen Beinamen auf den Beruf und nicht auf die Gesinnung der dort wohnenden Feuerwehrleute anspielte und inzwischen gesichts- und geschichtslos renoviert wurde; die alte Post im dörflichen Stil und die wilhelminische Bürgerschänke. Auf ihrem Grund stand bis zum Verkauf 1902 der Hof der Familie Kersten. Diese Familie zählte jahrhundertelang zu den größten Bauern Wehlheidens und stellte mehrere Bürgermeister des damals selbstständigen Dorfes. Die Familie, durch den Verkauf vieler Grundstücke zu Wohlstand gekommen, gab den Hof auf und zog in standesgemäßere Unterkünfte im Vorderen Westen um.

Der Schriftsteller, Historiker und Journalist Kurt Kersten (1891-1962) wurde noch als Bauernsohn geboren. "Die russische Oktoberrevolution bestimmte meine politische Haltung", urteilte er später über sich. Er war befreundet mit Theodor Heuß und Mitarbeiter Willy Münzenbergs, den er bei den Vorarbeiten zu "Propaganda als Waffe" unterstützte. "Kersten vor allem war die umfangreiche Sammlung von Materialien aus nationalsozialistischen Quellen zu danken, die dem Werk als Grundlage diente" (Babette Groß). In den 30er Jahren wurde er einer der Organisatoren der deutschen antifaschistischen Literatur in der französischen Emigration. Wie viele andere kehrte auch Kersten aus der Emigration nicht nach Deutschland zurück. Er arbeitete bis zu seinem Tode als Redakteur des deutschsprachigen "Aufbau" in New York. Sein Grab befindet sich mit den anderen Gräbern der Familie Kersten auf dem Wehlheider Friedhof. Elisabeth Kersten (1893-1979), seine Schwester, war als Chefredakteurin des Landwirtschaftlichen Wochenblattes ebenfalls journalistisch tätig.

In Spohrs Gastschänke Zur Bürgerschänke, dem Mittelpunkt des Wehlheider Vereinslebens, wird alljährlich eine Woche vor der Kirmes das Kirmesbürgermeisterpaar gewählt. Wenn man bedenkt, daß auf dem Hof der Kerstens viele Wehlheider Bürgermeister das Licht der Welt erblickten, kommt man nicht umhin zu glauben, an diesem Ort müsse ein besonderer Geist herrschen. Dem Ortsvorsteher Holstein ist es 1988 erstmals gelungen, beide Wehlheider Autoritäten, Ortsvorsteher und Kirmesbürgermeisterschaft, in einer Hand zu vereinigen.

Wir verlassen das alte Zentrum Wehlheidens über die Kohlenstraße - auf ihr wurde die Kohle aus dem damals im Habichtswald bestehenden Bergwerken abtransportiert -, biegen an der Kreisgeschäftsstelle der Grünen nach rechts in die verkehrsberuhigte Zone ab und folgen dabei der Linienführung der 1965/66 eingestellten Herkulesbahn.

Die Friedensschänke hat schon viele unterschiedliche Gäste beherbergt. In den Hinterräumen befand sich bis zur Machtübernahme der NSDAP eine Arbeiterbibliothek, dann übernahm die SA das Gasthaus als Sturmlokal, die Bibliothek musste geschlossen werden. Und im Jahre 1966 beehrten die Rainbows (ihr größter Hit: My Baby balla balla) nach ihrem Auftritt in Kassel mit ihrer alkoholisierten Anwesenheit.

Im Gegensatz zu Neu-Wehlheiden, dem Vorderen Westen, wo die NSDAP überdurchschnittliche Wahlergebnisse erzielen konnte, fanden die Nazis in Alt-Wehlheiden nur wenig Resonanz, "weil das Wehlheider Gebiet links der Wilhelmshöher Allee infolge seiner Größe und Abgelegenheit nicht so bearbeitet werden konnte, wie es im Interesse der Bewegung erforderlich war", beklagte eine NS-Zeitung noch 1936. Im Mai 1932 konnte eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet werden, die Parteiversammlungen fanden im Lokal des Gastwirts Otto statt. Dort wurde auch die Geschäftsstelle eingerichtet, die, nachdem die Ortsgruppe angewachsen war, vergrößert und verlegt wurde. Nach 1933 wurde auch in Wehlheiden gleichgeschaltet, die Arbeiterorganisationen verboten und aufgelöst, die Vereine von den Nazis übernommen; das Wehlheider Hoftheater stellte 1937 freiwillig den Theaterbetrieb ein, um nicht unter dem Einfluss der Nazis weiterarbeiten zu müssen. Willy Schmidt, der Wehlheider Max Reinhardt, lange Jahre Spielleiter des Hoftheaters, hat seine Geschichte nachgezeichnet und dargestellt, warum in Kassel "Der Weg zur Kunst über Wehlheiden" (HNA) führt:

Im Jahre 1911 fand sich ein Kreis dramatisch begabter junger Menschen zusammen, die, angeregt durch die Festspiele, bei denen sie mitwirken konnten, den Wunsch hegten, einen kleinen Zirkel zu bilden, dessen Zielsetzung die Durchführung literarischer Abende war. (...) Allmählich keimte bei den Initiatoren der Vortragsabende der Gedanke, kleinere Theaterstücke aufzuführen und für diese einen Kreis von Zuschauern zu interessieren. In dem damals bestehenden Arbeiter-Fortbildungs-Verein bot sich hierzu die beste Gelegenheit, und so siedelte die "freie literarische Vereinigung" als "Kasseler Laienbühne von 1911" in dessen Räume um. In den 20er Jahren, als Theaterabteilung der Turn- und Rasensportvereines (TURA) begann in der Gaststätte Umbach der regelmäßige Spielbetrieb. Der Tanzboden diente als Bühne, die Kegelbahn als Garderobe, dazwischen lag der Hof. Über ihn führte für die Schauspieler der Weg zur Kunst. Im Winter war jeder Spieler verpflichtet, ein Brikett oder Kohlen mitzubringen. Bald musste der Spielbetrieb in die Stadthalle verlegt werden, aus der Spottbezeichnung wurde in Kassel ein fester Begriff. Zum Winterfest "Die Manege kommt" kamen aus "Kassel 2.000 Zuschauer, aus Wehlheiden 2.000 und aus den benachbarten Städten kamen die Zuschauer in Scharen" (Kasseler Post). Im Zuge der Gleichschaltung drohte das Wehlheider Hoftheater schließlich völlig unter den Einfluss der NS- Kulturabteilung zu geraten. Ein Verbot der Aufführungen wurde nicht ausgesprochen, allerdings gab man uns unmißverständlich zu verstehen, daß die Aufführungen nicht mehr "zeitgemäß" seinen. So entschlossen wir uns nach dem 25jährigen Jubiläum, unsere Veranstaltungen einzustellen.

1946 begann unter der Schirmherrschaft des DGB, wohlwollend unterstützt durch die führenden Männer Pfetzig und August Heinemann der Neuaufbau. Gespielt wurde in einer Henschel-Halle, der Reinertrag fiel dem DGB zu, nur der alte Name Wehlheider Hoftheater durfte auf Anordnung der Behörden nicht geführt werden. Heute spielt das Hoftheater zwar auf Wehlheider Grund, in der Heinrich-Schütz-Schule, aber nicht in Wehlheiden.

Wir beenden unseren Spaziergang, wo sich Kirchweg und Friedensstraße treffen und ihre Weiterführung und ihre Namen für den Wehlheider Platz aufgeben mußten.